Unkritisch und massenhaft wird das „Axiom“ verbreitet, ein Mensch käme nicht umhin, in Gegenwart eines anderen mit diesem zu kommunizieren: „Man kann nicht nicht kommunizieren[!]“. Der Satz braucht ein logisches (nicht grammatikalisches) Ausrufezeichen, weil es sich ausdrücklich um ein Axiom handeln soll. Dieses „Axiom“ ist dem Psychologen Paul Watzlawick (1921-2007) entlehnt worden. Watzlawick hat es 1967 (in deutscher Übersetzung 1969) aufgestellt, allerdings vorausgeschickt, es handele sich um eine von mehreren „provisorischen Formulierungen, die weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Endgültigkeit erheben“ könnten; sie litten unter „theoretischer Schwäche“, aber dieser Schwäche sei immerhin „ihre praktische Nützlich
keit“ gegenüberzustellen. Abgesehen davon, dass fraglich erscheinen muss, ob theoretisch möglicherweise falsche Sätze von vornherein als für die Praxis gleichwohl nützlich beurteilt werden dürfen – Watzlawicks halbherzige Einschränkung ist von unzähligen Epigonen weggelassen, sein „pragmatisches“, d.h. auf die kontextabhängige Kommunikations-wirklichkeit bezogenes „Axiom“ aber um so begeisterter immer weiter-getragen worden. Ein Indiz dafür ist, dass es schwerfällt, im Internet eine abweichende Meinung vertreten zu finden.
Verhalten hat vor allem eine Eigenschaft, die so grundlegend ist, dass sie oft übersehen wird. Verhalten hat kein Gegenteil, oder, um dieselbe Tatsache noch simpler auszudrücken: Man kann sich nicht nicht verhalten. Wenn man akzeptiert, dass alles Verhalten in einer zwischenpersönlichen Situation Mitteilungscharakter hat, d.h. Kommunikation ist, so folgt daraus, dass man, wie immer man es auch versuchen mag, nicht nicht kommunizieren kann. Paul Watzlawick / Janet H. Beavin / Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Aus d. Amerikan., Wien 1969, S. 50 f.
Als Paradebeispiel für das „Zur-Kommunikation-verurteilt-sein-Axiom“ dient die Situation im Wartezimmer, wo sich zu einem bereits anwesenden Patienten ein zweiter gesellt. Das Axiom behauptet nun, dass die beiden tun und lassen könnten, was sie wollten – unaus-weichlich müssten sie miteinander kommunizieren, sich zueinander verhalten.
Darüber, was sinnvollerweise mit Kommunikation bezeichnet werden sollte, herrscht weitgehende Übereinstimmung: Mindestens zwei Menschen fungieren als „Sender“ oder „Empfänger“, und eine einseitige Kommunikation ist dann hergestellt, wenn es dem Sender gelingt, beim Empfänger eine Information anzulanden. Die Sendung besteht aus Zeichen, und für ein Mindestmaß an Kommunikation müssen diese nicht einmal als solche verstanden werden; es muß dem Empfänger allein deutlich werden, dass der Sender den Versuch unternimmt, bei ihm Botschaften ankommen zu lassen.
Kommunikationsforschung ist empirische Forschung, psychologische und Sozialforschung. Wozu braucht empirische Forschung Axiome? Empirische Forschung arbeitet mit Hypothesen. Wenn Hypothesen angeführt werden, muss hinzugefügt werden, unter welchen Bedingungen die jeweilige Hypothese als widerlegt betrachtet werden muss. Dies Bedingungen können von Watzlawick und seinen Anhängern nicht genannt werden, sie lassen Ausnahmen nicht zu, haben einen dogmatischen Allsatz formuliert. Der aber ist für die empirische Forschung wertlos.
Die allgemeine Lebenserfahrung sagt im Gegensatz zum genannten „Kommunikationsaxiom“ das folgende: Wenn sich zwei Menschen gleichzeitig im Wartezimmer befinden und nicht die Absicht haben, sich gegenseitig Botschaften zuzusenden, dann ist es auch überflüssig oder unzulässig, in irgendwelche Handlungen eine Botschaft hineinzu-interpretieren. So darf der Umstand, dass die Person A zu einer Illustrierten greift, nicht als Botschaft des Inhalts aufgefasst werden, dass A mit B nicht kommunizieren möchte oder gar, dass A zu demonstrieren versuche, dass sie den „Spiegel“ dem „Focus“ vorziehe. Der oben zitierten These muss also entgegengestellt werden: Kommunikation ist nicht mit Verhalten ganz allgemein gleichzusetzen, Kommunikation ist ein auf einen Kommunikationspartner gerichtetes Verhalten.
Kommunikation ist eine von vielen Verhaltens-Optionen; sie kann ergriffen werden oder nicht. Redensarten wie „Kommunikation aufnehmen“, „Kommunikation abbrechen“ oder „Kommunikation verweigern“ haben ihre Berechtigung. Wazlawick hat zwar sicherheits-halber noch eine „Gummi“- Formulierung eingebaut: Er spreche über die „zwischenpersönliche Situation“. Das rettet seine Argumentation aber nicht. Wenn eine „zwischenpersönliche Situation“ eine solche sein soll, in der Menschen zwangsläufig kommunizieren, auch wenn sie es nicht wollen, dann bleiben gleichwohl Situationen übrig, in denen das nicht der Fall ist, dann muss zwischen zwei Personen im Wartezimmer nicht automatisch eine „zwischenpersönliche Situation“ entstehen.
Das „Zur-Kommunikation-verurteilt-sein-Axiom“ ist auch unter ethischem Aspekt abzulehnen. Niemand hat das Recht, in irgendwelche unserer Handlungen und Botschaften hineinzuinterpretieren, wenn kein Wille erkennbar ist, Kommunikation zu betreiben. Wir können deshalb nicht ohne weiteres für angebliche „Sendungen“ verantwortlich gemacht werden, man kann uns eine Kommunikation auch nicht in jedem Fall aufzwingen. Wenn ein streitsuchender Rowdy auf der Reeperbahn einen Passanten „anmacht“ und ihm vorwirft, er habe ihn, den Rowdy, schief angeguckt und müsse deshalb jetzt verprügelt werden, so bliebe nach Watzlawick dem Belästigten nicht die Möglichkeit, zu beteuern, dass er den anderen, der nur einen Schritt an ihm vorbeigegangen war, nicht wahrgenommen, vielmehr durch ihn hindurchgeblickt habe. Doch wenn der „Angemachte“ ohne Reaktion weitergeht, so kommuniziert er allein dadurch nichts. Freilich kann sein Verhalten so gedeutet werden, als ob er zum Ausdruck bringen wolle, sich von dem Rowdy nicht nötigen zu lassen. Diese Deutung wird aber „von außen her“ an ihn herangetragen.
Das fälschlicherweise sogenannte „Axiom“, man könne nicht nicht kommunizieren, ist also nicht nur falsch, sondern kann sich auch schädlich auswirken. Es kommt nicht darauf an, alle möglichen Vorkommnisse unter einen Allsatz zu zwängen, sondern auf die Differen-zierung: Wo sind Gegenbeispiele?
Helmut Stubbe da Luz, Januar 2013
Kommentar:
Sehr geehrter Herr Stubbe da Luz,
als Deutsch- und Informatiklehrer am Gymnasium ist mir seit Jahrzehnten klar, dass es sich bei dem „Axiom“ „Man kann nicht nicht kommunizieren“ um blanken Unsinn handelt und dass diese Aussage
inhaltlich völlig hohl und leer ist. Leider wird sie an Schulen den Schülern immer noch als grundlegende Tatsache der zwischenmenschlichen Kommunikation vermittelt. Ihr philosophischer Beitrag
„Tausendfach Verbreiteter Unsinn: Man kann nicht nicht kommunizieret“ hat mir zusätzliche Klarheit verschafft und Selbstzweifel zerstreut.
Vielen Dank für Ihren Beitrag und auch für die gute Verständlichkeit Ihrer Ausführungen.
Viele Grüße aus Trier, Christoph Oberweis, 23. Oktober 2013